Donnerstag, 29. November 2012

Gemachte Armut in Europa





Arte-Dok-Sendung vom 27.11.12
http://videos.arte.tv/de/videos/gemachte-armut--7075488.html

Lange Zeit galt Armut in Westeuropa als überwunden; etwas, das aus den Industrieländern ein für allemal verbannt schien. Doch nun kehrt sie mit Schärfe zurück, als Folge der Umbrüche und Umstürze in der Wirtschaftswelt und dem "Umbau" des Sozialstaates. Die neoliberalen Reformen, die größere ökonomische Effektivität und größeren Wohlstand bringen sollten, haben viele Menschen in eine existenzielle Sackgasse geführt. Und das nicht nur in sogenannten Problemländern wie zum Beispiel Spanien. Dort ist die Lage besonders bedenklich. Ein Viertel der Bevölkerung ist arbeitslos, Millionen Kinder leben in Armut oder drohen dahin abzusteigen.
Aber auch im reichen Deutschland, dem europäischen Wirtschaftswunderland, nimmt die Zahl der Armen zu, ebenso wie in Frankreich. Und nichts deutet darauf hin, dass diese Situation sich in absehbarer Zukunft zum Besseren wenden wird. Ganze Bevölkerungsgruppen fühlen sich zunehmend ausgegrenzt. Und die Armut wird "vererbt". Das stellt auch die Gesamtgesellschaft vor ernste Herausforderungen: Denn die Kinder sollten eigentlich die Zukunft sein. Wenn diese aber in den Kreislauf von sozialer Abhängigkeit, Mutlosigkeit und Perspektivlosigkeit geraten, werden sie nicht in der Lage sein, an der Zukunft mitzuwirken.
Lourdes Picareta beschreibt und analysiert in ihrem Film die Situation in Spanien, Deutschland und Frankreich. Und lässt darin unter anderem Sozialforscher und Politikwissenschaftler zu Wort kommen, die von der "gemachten Armut" sprechen, von einer Entwicklung, die keineswegs natürlich entstanden ist und vermeidbar gewesen wäre.

Modetrends in Europa, Tote in Bangladesch

original: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/nach-brand-in-textilfabrik-modetrends-in-europa-tote-in-bangladesch-1.1533689

Bangladesch Tausende protestieren nach Feuer in Textilfabrik

(Video: Reuters, Foto: AP)
Die Frauen nähen wie Getriebene, sie werden beleidigt, sexuell belästigt, geschlagen. Die Textilproduktion für westliche Konzerne in Billiglohnländern fußt auf der Ausbeutung von Frauen. Wenn Menschen bei der Herstellung von Billigtextilien sterben wie jetzt in Bangladesch, ist der Aufschrei jedes Mal groß. Doch an der Situation ändert sich nichts.
Von Karin Steinberger und Stefan Weber
 
Jetzt werden wieder alle aufschreien. So wie im September 2012, als in Pakistan zwei Fabriken abbrannten und mehr als 300 Menschen in den Trümmern erstickten. Es sind immer die gleichen Bilder: verschmurgelte Nähmaschinen, Männer, die mit bloßen Händen nach ihren Frauen oder Töchtern graben. Es sind immer die gleichen Probleme: abgesperrte Notausgänge, vergitterte Fenster, gefälschte Sicherheitszertifikate, korrupte Fabrikbesitzer. Es sind immer die gleichen Ausreden: der Druck der Weltwirtschaft.
Jetzt kommen die Bilder also aus Bangladesch. Jetzt graben die Männer in Savar nach den Resten ihrer Frauen, sammeln Sandalen und bunte Schals aus der Asche. Mehr als 112 Menschen sind am Wochenende in der Tazreen-Fashion-Fabrik gestorben, in der jeden Monat eine Million T-Shirts, 800.000 Polo-Shirts und 300.000 Fleecejacken produziert wurden, unter anderem für C&A, Carrefour, Kik und Walmart. Fliederfarben, orange, wie es die Branche gerade wünscht. Jeder neue Trend in Europa bedeutet, dass die Frauen in Bangladesch Überstunden machen.
In Bangladesch trauerten sie, Nationalflaggen im ganzen Land wurden auf Halbmast gesetzt, in den Tempeln beteten die Menschen, Politiker sagten, was zu sagen ist. Dann schlug die Trauer um in Wut. Tausende Arbeiter gingen in den vergangenen Tagen auf die Straße, bewarfen Fabrikgebäude mit Steinen, zerstörten Autos und blockierten Straßen. Hunderte Fabriken wurden geschlossen.

Ein Mindestlohn von 46 Euro im Monat

Es herrscht eine Stimmung wie im Sommer 2010, als Zehntausende durch die Straßen der Hauptstadt Dhaka zogen und für eine bessere Bezahlung in der Branche demonstrierten. Damals kämpften sie für einen Mindestlohn von 5000 Taka im Monat, 46 Euro. Sie hatten es satt, mit einem Drittel davon abgespeist zu werden. Sie hatten es satt, ihr Leben zu riskieren für so wenig Geld. Nichts hatte man von ihnen gehört in all den Jahren, nichts gelesen außer dem kleinen Schild hinten in zahllosen T-Shirts und Hosen, in Millionen von knappen Sommerkleidchen und dicken Winterpullovern: Made in Bangladesch.
Jetzt standen sie auf der Straße, die meisten von ihnen Frauen. Mit glitzernden Ohrringen und golddurchwirkten Saris. Es war das erste Mal, dass sie aufbegehrten. Die Fabrikdirektoren jammerten, dass sie die Forderungen ihrer westlichen Auftraggeber nicht werden erfüllen können. Es gab Verletzte, Tote. Dann war wieder Ruhe.

 

Bangladesch Erneut Brand in einer Textilfabrik

Nur drei Tage nach dem tödlichen Großbrand in einer Textilfabrik ist in einem weiteren Betrieb in Bangladesch ein Feuer ausgebrochen. Derweil gingen Tausende Arbeiter auf die Straße, um ihrer Wut über den verheerenden Großbrand vom Wochenende Luft zu machen.
Millionen von Menschen arbeiten in den Bekleidungsfabriken Bangladeschs. Die Textilindustrie ist der wichtigste Industriezweig des Landes. Knapp zehn Prozent aller Textilimporte von Europa kommen aus Bangladesch, das nach China und der Türkei der drittgrößte Exporteur von Kleidung nach Europa ist. In einer Umfrage unter den Einkaufschefs großer Modeunternehmen nannten mehr als drei Viertel der Befragten Bangladesch als das am stärksten aufstrebende Einkaufsland für Textil. Aber zu welchem Preis?

Nach Angaben der "Kampagne für Saubere Kleidung" starben in Bangladesch seit 2006 mehr als 470 Menschen bei Bränden in Textilfabriken. Die Sicherheitsmaßnahmen aber sind meist noch genau so lausig wie schon immer. Elektrokabel hängen ungeschützt von der Decke, Notausgänge sind verschlossen, wenn es überhaupt welche gibt. Fenster sind vergittert. Übungen zum Brandschutz? Meist unbekannt.
Gisela Burckhardt von der "Kampagne für Saubere Kleidung" kämpft seit Jahren für bessere Arbeitsbedingungen, für eine bessere Bezahlung und für bessere Sicherheitsmaßnahmen in der Branche. Sie hat Diagramme erstellen lassen, in denen gezeigt wird, wie sich der Preis der Kleider zusammensetzt: 50 Prozent Gewinn und Kosten des Einzelhandels, 25 Prozent Markenwerbung, 13 Prozent Fabrikkosten, 11 Prozent Transport und Steuern. Und nur ein Prozent Lohnkosten.
Vor ein paar Jahren hat sie Arbeiterinnen aus Bangladesch nach Deutschland eingeladen. Sie sollten der Ausbeutung ein Gesicht geben und den deutschen Käufern zeigen, wer den Preis zahlt für Kleidungsstücke, die so billig sind, dass man sich schämen muss.
Suma Sarker stand in ihrem glitzernden Gewand im Neonlicht eines Kik-Discounters in Mannheim und fuhr mit der Hand über die bunten Nähte kleiner Kinderhosen. Winzige Reisverschlüsse, zierliche Hosentaschen. 60 bis 70 dieser Taschen näht sie in der Stunde. Dann sah sie das Preisschild: 4,99 Euro. Und konnte es selbst nicht glauben, wie billig ihre Arbeit ist.
Die Frauen nähen wie Getriebene. Und auch das: Sie werden beleidigt, sexuell belästigt, geschlagen. Wer einer Gewerkschaft beitritt, riskiert es, den Job zu verlieren. Gisela Burckhardt kennt das schon, wenn ihre Telefone nicht mehr stillstehen nach einer Katastrophe wie dieser. Und in der Zeit dazwischen? Hat sie Mühe, das Thema zu den Menschen zu bringen.

Brandschutzabkommen werden von H&M und Gap verhindert

Sie sagt: "Es ist dringend notwendig, das Brandrisiko branchenweit zu bekämpfen. Nur wenn man Gewerkschaften vor Ort mit einbindet, wird sich etwas ändern." Immerhin: Tchibo und die US-Bekleidungsfirma PVH, zu der Marken wie Tommy Hilfiger und Calvin Klein gehören, haben ein Brandschutzabkommen mit Arbeitnehmervertretern vereinbart.
Es kann allerdings erst in Kraft treten, wenn mindestens vier große Modefirmen mitmachen. Firmen wie H&M und Gap weigern sich bis jetzt. Gisela Burckhardt hofft nun auf Metro (Real, Kaufhof) und Lidl. Beide hat die "Kampagne für Saubere Kleidung" vor kurzem aufgefordert, das Brandschutzabkommen zu unterzeichnen. Bis jetzt - keine Antwort.
Das Problem ist nicht, dass es keine Zertifizierungssysteme gibt. Im Gegenteil. Allein deutschen Unternehmen stehen etwa 80 verschiedene Instrumente zur Verfügung. Viele Firmen haben außerdem selbst einen Code of Conduct oder Compliance-Richtlinien festgelegt. Aber Aufträge werden von Subunternehmer zu Subunternehmer weitergereicht. Die wenigsten Firmen kennen ihre Lieferkette. Gisela Burckhardt macht das wütend, wie sich die große Firmen seit Jahren herausreden. Sie will verhindern, dass es so ist wie immer: Es werden alle aufschreien.
Aber passieren wird - nichts.

Mittwoch, 21. November 2012

Das Ungleichgewicht des Schreckens

original: http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/naher-osten-und-afrika/Das-Ungleichgewicht-des-Schreckens/story/30251819


Eine Analyse von Christof Münger.

Gaza und Goma: Die Eskalation im Nahen Osten wird stark beachtet, jene im Kongo jedoch kaum. Die Hintergründe.

«Wenn das, was bei uns passiert, im Nahen Osten geschähe, gäbe es einen weltweiten Aufschrei», sagte ein Kongolese in Goma. Das war vor ein paar Jahren, als gerade die x-te Gewaltwelle über den Ostkongo hereinbrach. Einmal mehr wurden Unschuldige ermordet, Kindersoldaten verschleppt und Frauen jeden Alters vergewaltigt. Das kümmere niemanden, stellte der Hilfswerksmitarbeiter resigniert fest. Schon damals fiel es schwer zu widersprechen.
Seither hat sich nicht viel geändert. Das zeigt sich dieser Tage exemplarisch, weil die beiden Konflikte gleichzeitig eskaliert sind: Der Krieg zwischen Israel und der Hamas wird breit thematisiert, die Demokratische Republik Kongo ist hingegen nur ein Randthema. Damit kontrastieren die Opferzahlen: Während zuletzt gut hundert Palästinenser und einzelne Israelis getötet wurden, kamen allein bei einem Massaker in der Provinz Nord-Kivu fast 300 Menschen ums Leben.
Fünf Millionen Tote
Ohne Zweifel ist jedes Opfer, hier wie dort, eines zu viel, und ohne Zweifel ist der Schmerz der Angehörigen überall enorm. Trotzdem frappiert die unterschiedliche Resonanz, insbesondere wenn man die Zahl der Toten insgesamt vergleicht: Im arabisch-israelischen Konflikt kamen seit 1948, dem Jahr, als Israel gegründet wurde, 110'000 bis 150'000 Menschen ums Leben. Im Kongokrieg starben allein seit 1998 über 5 Millionen Menschen – das öffentliche Interesse ist umgekehrt proportional.
Weshalb besteht dieses Ungleichgewicht des Schreckens? Einleuchtend ist erstens die Erklärung, dass uns Israel politisch und vor allem historisch und kulturell näher steht als ein afrikanisches Land. Deshalb schnellt der Puls bei jeder Eskalation im Gazastreifen in die Höhe, egal, ob nun Israel oder die Hamas kritisiert wird. Kommt hinzu, dass sich fast alle westlichen Regierungschefs äussern, wenn in Nahost geschossen wird, angefangen beim US-Präsidenten über die EU-Aussenbeauftragte bis zum Bundesrat. Und soeben ist der UNO-Generalsekretär wieder einmal in die Region gereist, um zu vermitteln; wird hingegen wie gestern Goma angegriffen, äussert sich allenfalls sein Sprecher in New York.

Unterschätzter Krieg im Kongo
Zweitens erlaubt der Konflikt im Nahen Osten im Gegensatz zu jenem im Kongo eine Identifikation. Je nach Standpunkt kann man Partei ergreifen. Die einen sind die Guten, die anderen die Bösen. Dagegen tritt im Kongo alle paar Monate eine neue Rebellengruppe auf, die Begriffe wie Demokratie oder Freiheit in ihrem Namen trägt, aber mordet und vergewaltigt. Das gilt selbst für die Regierungstruppen. Vor diesem scheinbaren Durcheinander haben die westlichen Medien längst kapituliert. Beachtung erhalten dagegen allerlei moderne Wunderwaffen, die im Nahen Osten vorgeführt werden – der dritte Punkt, der die Aufmerksamkeit fördert. Derzeit ist es der «Iron Dome», das neue Raketenabwehrsystem der Israelis. Ausserdem kommunizieren beide Seiten neuerdings über die digitale Gerüchteküche Twitter. In Goma hingegen wird nicht mit Hightech gemordet, sondern mit Macheten und ohne trendigen Tweet darüber.
Trotzdem ist der Fokus auf den Nahost-Konflikt nur bedingt nachvollziehbar. Denn er hat kaum jene globale Bedeutung, die ihm zugeschrieben wird. So galt nach 9/11 die Lösung des Palästinaproblems als Voraussetzung, um die al-Qaida zu besiegen. Inzwischen ist Osama bin Laden tot und seine Terrororganisation zumindest eingedämmt, Frieden in Nahost aber ferner denn je. Und auch die Mullahs in Teheran würden kaum ihre Atomwaffenpläne schubladisieren, wenn die Palästinenser endlich ihren Staat erhielten.
Die internationale Bedeutung des Krieges im Kongo hingegen wird unterschätzt. Dabei ist jeder, der auf seinem Smartphone die News aus dem Gazastreifen abruft, abhängig vom Kongo: Die Kondensatoren, die tropfenförmigen Perlen im labyrinthischen Inneren jedes Mobiltelefons und jedes Laptops, sind aus dem Metall Tantal hergestellt, das aus Coltan gewonnen wird, und dieses stammt hauptsächlich aus dem Ostkongo.

Rohstoffreservoir für den Reichtum des Westens
Damit hat der Kongo den Rohstoff für die Informationsrevolution geliefert, wie zuvor Kupfer und Kautschuk für die industrielle Revolution; auch das Uran für den Startschuss ins atomare Zeitalter kam aus dem Kongo. Seit dem 19. Jahrhundert ist der Subkontinent das Rohstoffreservoir für den Reichtum des Westens. Entsprechend haben hier die europäischen Grossmächte sowie Washington und Moskau um Einfluss gekämpft. Inzwischen hat China die Nase vorn; Anfang Woche hat Peking gar angekündigt, eigens für den Kongo einen Kommunikationssatelliten ins All zu schiessen – das ärmste Land der Welt ist von enormer strategischer Bedeutung. Das wird oft ignoriert, ganz zu schweigen vom Leid, das seinen Bewohnern regelmässig widerfährt, derzeit in Goma.

Dienstag, 20. November 2012

Glencores Hinterhof - Wie Schweizer in Sambia Kupfer gewinnen

Nirgendwo sonst in Afrika wird so viel Kupfer produziert wie in Mufulira. Der Schweizer Rohstoffkonzern Glencore betreibt in dieser Stadt in Sambia mehrere Untertageminen und eine riesige Kupferhütte. Mufulira heisst zu Deutsch „Ort des Reichtums“. «Reporter» zeigt ein Portrait der Minenstadt und geht der Frage nach, wie die Einwohner vom Rohstoffreichtum profitieren.

Glencore hat die Mine in Sambia 2001 übernommen und die Kupferproduktion massiv gesteigert. Dabei sind die Schwefeldioxid-Emissionen des Werks derart angestiegen, dass sie Gesundheitsschäden verursachen, wie der Chefarzt des Spitals, Makasa Sichela, erzählt: „Wenn die Fabrik viel Abgase ausstösst, werden hier Neugeborene mit Atemnot und Lungeninfektionen eingeliefert.“

Die Schweizer Besitzer sind daran die Kupferhütte zu erneuern. Dabei werden einige der Umweltprobleme nicht gelöst, sondern verlagert, wie Reporter Res Gehriger in Mufulira feststellt.

 http://www.videoportal.sf.tv/video?id=c47c3175-53af-4a62-afa3-b9128ee90208

Freitag, 16. November 2012

Presse, Demokratie und Meinung. Eine Rede vor den Aktionären und Freunden der «Basler Zeitung»

Constantin Seibt am Dienstag den 13. November 2012 im Tages-Anzeier Blog: Deadline, Journalismus im 21. Jahrhundert http://blog.tagesanzeiger.ch/deadline/index.php/1769/presse-demokratie-und-meinung-eine-rede-vor-den-aktionaren-und-freunden-der-basler-zeitung/ 

Letzen Freitag veranstaltete die Besitzerin der BaZ, die Medienvielfalt Holding AG, einen geschlossenen Anlass zum Thema «Die Rolle der Medien in der Demokratie». Referenten waren Markus Spillmann, Chefredaktor der NZZ, Ruedi Matter, Direktor von Radio und Fernsehen, Roger Köppel, Verleger der «Weltwoche», und ich. Hier meine Rede.

Sehr geehrte Frau Präsidentin Masoni,
Sehr geehrter Herr Tettamanti,
Sehr geehrte Damen und Herren,

ich danke Ihnen für Ihre Einladung. Es ist ein Privileg, hier kurz über Journalismus und Demokratie nachzudenken, denn Journalismus ist ein Handwerk und Demokratie eine grosse Sache, und normalerweise sitzt man in seinem Büro mit halb geleerten Eisteeflaschen und halb fertigen Texten und denkt nicht an Demokratie.
Im Grund braucht es das auch nicht. Denn bei den spektakuläreren Momenten des Schreibens – den Momenten der Erkenntnis, des Zorns, des Witzes – ist man ganz bei sich und das ist gut so. Denn am stärksten ist Journalismus, wenn er so einfach wie möglich ist: Wenn er die Stimme eines einzelnen Menschen ist, der sagt, was er gesehen oder gedacht hat.
Der wichtigste Moment, wo ich im Alltag an die Wirkung, also das Publikum, also im weitesten Sinne an die Demokratie denke, passiert in den stillsten, unspektakulärsten Teilen des Textes. Dort, wo ich unauffällig Erklärungen nachschiebe, etwa, was zum Teufel ein Derivat ist oder wie sich eine Transaktion genau abspielt hat.
Ich feile oft am längsten an diesen stillen Passagen, denn sie müssen klar und genau sein, trotz aller Knappheit. Sie müssen Volkshochschule sein, ohne dass sie nach Volkshochschule klingen.
Denn das ist meine wichtigste Aufgabe als Journalist, mein Service an die Öffentlichkeit: präzis die Grundlagen zu liefern, von denen aus diskutiert werden kann. Mein Job ist, eine komplexe Welt verständlich zu machen, ohne ihre Komplexität zu verraten. Der Rest, nicht zuletzt meine Meinung, ist sekundär: Es ist der Anstrich des Hauses, nicht sein Fundament.

Die Anti-Mainstream-Strategie
Deshalb zweifle ich auch an der Art Journalismus, den Sie als Verein fördern. Sowohl handwerklich, als auch, ob dieser die Demokratie stützt. Ihre Medienvielfalt Holding AG hat bisher in ähnlicher Besetzung zwei Blätter neu lanciert: die «Weltwoche» und die «Basler Zeitung». Beide mit Herrn Tettamanti als Hauptaktionär, Herrn Matter als Banker, Herrn Wagner als Anwalt, Herrn Leutenegger als Verlagschef. Und mit Herrn Blocher als Hauptgesprächspartner des Chefredaktors.
Ihre Zeitungen sollen, wie Ihr Verein im Namen schon sagt, die Medien- und die Meinungsvielfalt fördern. Dazu, wie man in Interviews liest, wollen Sie Transparenz schaffen und Denkblockaden abbauen. Doch mit welchen Mitteln tun sie das?
Nun, wenn man die «Weltwoche» ansieht, so ist deren technischer Haupttrick, das Gegenteil vom sogenannten Mainstream zu schreiben. Das erscheint zunächst als gute Idee: Das Gegenteil der allgemeinen Gedanken ist oft ein inspirierender Gedanke. Die Frage ist nur, ob es auf lange Sicht eine kluge Strategie ist.
Ich glaube das nicht, aus folgenden Gründen:
  1. Zunächst ist schon die Annahme seltsam, dass der Mainstream immer falsch liegt. Noch seltsamer ist die Annahme, dass er immer genau falsch liegt: um 180 Grad, so wie eine Kompassnadel, die stets nach Süden zeigt.
  2. Am Anfang kann man mit Anti-Mainstream die Leute verblüffen, ärgern, vielleicht sogar zum Denken, ja zum Ändern der eigenen Meinung bringen. Aber ziemlich bald ist diese Strategie nichts als negativer Opportunismus: Man sagt stets das Gegenteil des vermuteten Konsenses. Und ist dadurch im Kopf vom Mainstream genau so abhängig wie sonst nur der modischste Mensch. Und genau so blind: Denn es geht einem nicht um die Tatsachen, nur um die Meinungen über die Tatsachen in der Öffentlichkeit.
  3. Die Themenwahl eines solchen Blattes wird extrem berechenbar: Die eskalierende Finanzkrise – existiert nicht; Fukushima – war keine Katastrophe; Berlusconi und Putin – sind ehrenwerte Männer; das Weltklima – kühlt sich ab; Frauen – sind das regierende Geschlecht; Radioaktivität – ist gesund.
  4. Die Folge: Sie werden unglaubwürdig. Zwar wären viele Thesen – etwa dass Radioaktivität gesund, Bundesrätin Widmer-Schlumpf eine Landesverräterin oder der Klimawandel eine Massenverblendung von tausenden Experten ist – interessant. Aber dadurch, dass gar nichts anderes in dem Blatt stehen kann – also kein positives Wort über Widmer-Schlumpf, nicht, dass Fukushima doch eine Katastrophe war – ist ihr Dynamit nass geworden: Man hat nun bei jeder These in der «Weltwoche» das Gefühl, man müsse sie erst persönlich nachrecherchieren. Und dazu fehlt einem die Zeit. Ich habe ein Kind, einen Job, einen Blog und eine Liebe. Da bleibt kein Platz für die «Weltwoche».
  5. Das auch, weil das Blatt durch seine Berechenbarkeit längst kaum mehr aufregt. Es langweilt. Es langweilt immer mehr.
Um die «Weltwoche» überhaupt lesen zu können, muss man ihr also glauben. Durch ihre Strategie des konstanten Anti-Mainstreams ist die ganze Zeitung en bloc zur Glaubenfrage geworden: Man glaubt ihr alles oder nichts. Kein Zufall, beschreiben sie einige Anhänger als: ihre Bibel. Doch mit diesem Sprung von Informationsmedium zur Glaubenssache verkörpert sie nicht nur das Gegenteil von Kritik. Sondern ist auch das Gegenteil von Service für die Demokratie.

Der Bau von Paralleluniversen
Denn die Aufgabe der Presse ist es ja, mal recht, mal schlecht, einen Mainstream herzustellen: eine holprige, vage, aber dennoch brauchbare Einigung über Fakten und Einschätzungen, auf Grund deren man debattieren kann.
Wenn aber nun mit Mainstream und Anti-Mainstream zwei Paralleluniversen mit je eigenen Fakten und Logiken bestehen, ist das ein Schaden für die Demokratie. Dann gibt es keine Gemeinsamkeiten, keine Grundlagen mehr, sondern nur noch Meinungen. Und Anhänger davon. Also zwei Lager, die nicht verschiedene Ansichten, sondern verschiedene Wirklichkeiten haben.
Es ist kein Wunder, dass die «Weltwoche» dieses Lagerdenken intern wie in ihren Artikeln immer stärker betont: Es gibt nur noch wir und ihr. Kein Wunder, schleichen sich paranoide Züge in ihre Weltsicht ein: Etwa, wenn sie ernsthaft behauptet, die seit mehr als 150 Jahren solid bürgerliche Schweiz werde in Wahrheit von getarnten Sozialisten regiert. Und typisch wie für jedes Lagerdenken ist ihre zunehmende Polizeimentalität: Politiker, Publizisten, Professoren erscheinen auf wie Fahndungsplakate gestalteten Titelblättern als Irrlehrer oder Landesverräter. Diese Art Grafik ist kein Scherz. Es ist ein Zeichen der Verachtung für alle, die die Meinung des Blatts nicht teilen.
So kommt es auch, dass – wegen ihrer Berechenbarkeit, aber auch ihrer Isolation – zwar die Kraft der «Weltwoche», Themen durchzusetzen, zunehmend erodiert. Nichts, was sie schreibt, überrascht mehr. Aber Ihr Drohpotential ist gewachsen: Schon wegen des engen Bündnisses mit dem reichsten Politiker des Landes wird die «Weltwoche» gefürchtet. Das nicht zuletzt in der Partei von Christoph Blocher selbst.

Investieren in den Realitätsverlust
Der Aufbau einer Parallelwelt ist aber auch gefährlich für Sie, meine Damen und Herren. Für alle, die an die «Weltwoche» glauben. Das grosse Vorbild für alle Medien, die vor allem politischen Einfluss suchen, ist Fox News. Fox hat den Durchbruch geschafft: Die republikanische Partei der USA hat mit der Speerspitze Fox ein eigenes, geschlossenes Mediensystem aus Radioshows, Magazinen und Blogs errichtet. Und damit ihre eigene Wahrheit, ihre eigenen Fakten, ihr eigenes Universum. Und hat sich dadurch zunehmend radikalisiert. So radikalisiert, dass nicht nur die Politik des ganzen Landes durch zwei Wirklichkeiten gelähmt ist. Sondern auch die republikanische Partei sich selbst sabotiert: Bei der jüngsten Wahl sorgten etwa vier ultrakonservative, steinreiche Milliardäre im Bündnis mit ultrakonservativen Fox-Moderatoren dafür, dass in den parteiinternen Vorwahlen die untauglichen Konkurrenten von Herrn Romney fast bis zum Schluss im Rennen blieben. Und ihn weit in ihre Parallelwelt nach Rechts trieben. Obwohl Präsidentschaftswahlen in der Mitte gewonnen werden.
Am Ende glaubte der unglückliche Kandidat Romney selbst an die Fox-Welt: Wie man jetzt liest, glaubte er tatsächlich, dass sämtliche Zahlen von neutralen Umfrageinstituten falsch seien. Also dass in Wahrheit er weit vorne liege, weil alle ausser den parteieigenen Spezialisten und den Fox-Experten sich irrten. Darauf baute Romney dann eine vollkommen falsche Kampagnentaktik. Die Niederlage traf den Kandidaten, sein Team, seine Geldgeber, die ganze Partei dann völlig unerwartet. Das Paralleluniversum zerschellte an der Wirklichkeit.
Sie, meine Damen und Herren, riskieren also als Investoren in eine mediale Gegenwelt mehr als nur viel Geld: den Realitätsverlust.
Denn die Denkverbote sind heute längst auf Ihrer Seite. Etwa wenn Roger Köppel sagt:
Die Wirtschaft wird durch den Wettbewerb kontrolliert. Als Journalist kann ich mir nicht anmassen, Unternehmen oder das Management zu kritisieren. Kritische Unternehmensberichterstattung ist nicht Sache des Journalismus.
Wenn ein Profi-Beobachter die halbe Welt aus der Kritik, ja überhaupt aus dem Blick ausschliesst, und dies einfach aus Prinzip, dann sollten Sie gewarnt sein: Das ist die Haltung eines bereits blinden Ideologen.

Die zwei grössten Probleme der BaZ
Damit zu Ihrem aktuellen Projekt, der «Basler Zeitung». Es ist unschwer zu erkennen, dass Sie damit versuchen, das Projekt «Weltwoche» zu kopieren, «die ja schon das Richtige tut», wie Ihr Hauptaktionär Tito Tettamanti sagt.
Und tatsächlich läuft alles wieder gleich ab: Sie haben Köppels langjährige Nummer zwei als Chefredaktor eingesetzt, wie in der ersten Zeit nach der Machtübernahme Köppels gibt es Verwirrung und Protest überall, der neue Chef beschwört – wie einst Köppel – den «Pluralismus»: und zwar mit demselben Konzept von Pluralismus als Polemik von beiden Seiten. In der Praxis heisst das: Einige linke Alt-Politiker schreiben Feigenblatt-Kolumnen, während wie damals bei der «Weltwoche» mehrere Säuberungswellen durch die Zeitung jagen. Die alten Redaktoren gehen, linientreues Personal kommt.
Die Frage bleibt, wie Sie hier Ihre grossen Ziele Medienvielfalt, Transparenz, Pluralismus verwirklichen wollen. Sie haben dabei mindestens zwei Probleme:
  1. Ihr Chefredaktor, Markus Somm, ist ein Mann, der sein halbes Leben lang sämtliche Leute als zu wenig links kritisierte. Heute kritisiert er sie als zu wenig rechts. Dieser Mann ist im Kern kein Journalist. Er ist nicht einmal ein politischer Mensch. Denn sein Standpunkt ist immer – links wie rechts – jenseits des politisch Möglichen. Sie haben als Boss einen Prediger gewählt.
  2. Sie, meine Damen und Herren, stehen selbst im Verdacht, Marionetten zu sein. Nehmen wir die berühmte Vorgeschichte Ihrer Übernahme der «Basler Zeitung»: Ein Parteiführer und Milliardär lässt im Geheimen seine Tochter eine Zeitung kaufen und schiebt gegenüber der Öffentlichkeit einen Flugunternehmer als Besitzer vor und gegenüber den Banken den ehemaligen Chef einer Grossbank. Und all das, um seinen Biographen als Chefredaktor einzusetzen. Das ist eine Geschichte, die klingt wie aus Russland. So etwas tun Oligarchen.
Zwar behaupten Sie, Herr Blocher habe in Ihrem Unternehmen nichts mehr zu sagen. Er würde nur noch das Defizit decken. Was ich dann nicht verstehe, ist: Warum haben Sie den gesamten Jasstisch eines seiner beiden Strohmänner, des Ex-UBS-Chefs Marcel Ospel, in den Verwaltungsrat gesetzt, wenn Ihnen Ihre Reputation als Unabhängige lieb ist?
Kein Wunder, haben Sie mit ihrer Zeitung furchtbare Probleme: Die Auflage hat einen Viertel verloren, Herr Blocher hat bereits 20 Millionen eingeschossen und fungiert – wie erst letzte Woche in der «NZZ am Sonntag» – als Unternehmenssprecher, der die Strategie – eine «nackte Zeitung ohne Druckerei» – bekannt gibt. Und der politische Erfolg hält sich auch in Grenzen: Nach einer monatelangen Kriminalitätskampagne in der “Basler Zeitung” wurde kein einziger der Politiker, die in der BaZ darauf einstiegen, in die Regierung gewählt; und im Parlament gewann die SVP nur zwei kümmerliche Sitze dazu.
Diese Rechnung ist sogar für einen Milliardär teuer: 10 Millionen Franken pro gewonnenen Sitz in einem Regionalparlament.

Drei Ratschläge
Zum Schluss: Was sollten Sie tun?
  • Nun, wenn Ihnen – trotz allen Argumenten – eine rechtskonservative Parallelwelt am Herzen liegt, dann deklarieren Sie die «Basler Zeitung» offen als Parteiblatt. Die Schweiz hat eine lange Tradition von Parteiblättern. Zwar waren diese meist gemässigter als die «Basler Zeitung», weil sie sich an der Basis der Partei orientierten. Und nicht am Chef. Aber es gibt enorm Kraft, nicht mehr dauernd Verstecken spielen zu müssen.
  • Wenn Ihnen hingegen die Pressevielfalt am Herzen liegt, dann schaffen Sie mit Ihrem Geld, statt es in Basel zu verbrennen, eine Stiftung, die bestehenden kritischen Journalismus unterstützt. Meinetwegen auch nur konservativen. Denn die von Ihnen zu Recht kritisierte Uniformität in einigen Teilen der Presse geht nicht auf Denkverbote oder Ideologie zurück, sondern meist auf die Arbeitsbedingungen: auf Zeit-, also auf Geldmangel.
  • Wenn Ihnen aber politische Ziele wie Deregulierung, Stärkung der Banken und Konzerne, sowie Einfluss von finanzkräftigen Individuen am Herz liegen, so tun sie am allerbesten: gar nichts. Denn Erfahrung zeigt: Je schlechter die Leute informiert sind, desto mächtiger sind die bereits Mächtigen. (Ein Beispiel hier.) Und bei der wirtschaftlich bedingten Schrumpfung der Presse regelt Ihr Anliegen diesmal tatsächlich am besten der, der angeblich alles regelt: der Markt.
Ich danke Ihnen für Ihre Einladung. Eine kritische Stimme einzuladen, beweist Toleranz, zumindest Neugier. Deshalb bedaure ich sehr, Ihnen sagen zu müssen, dass ich für Ihr Projekt, so wie es sich derzeit darstellt, keine Chance auf Erfolg sehe: nicht publizistisch, nicht finanziell, nicht politisch. Und dass ich auch zweifle, dass ein Erfolg Ihres Projekts – sowohl für die Presse wie für die Demokratie – überhaupt wünschbar wäre.

Korrektur: Die SVP Basel gewann nach der ersten Auszählung der Briefstimmen 2 Sitze im Basler Grossrat. Doch das änderte sich. Nachdem zusätzlich auch die Urnen ausgezählt waren, war es nur einer. Das lässt die Kosten des gewonnenen Sitzes auf 20 Millionen Franken hochschnellen. So viel wie die Kosten des landesweiten SVP-Wahlkampfs in den Wahlen 2011. (Mit Dank an Renato Beck)