Montag, 22. August 2011

Geldlose Gesellschaft

Duch "Nicht-kommerzielles Leben in Berlin-Brandenburg" draufgekommen: http://ecobasa.org/nkl/

Artikel vom derStandard.at: http://derstandard.at/1313024065100/

Alternative zum Kapitalismus mit Verfallsdatum?

 

Ist die geldlose Gesellschaft letztlich die Befreiung von allen Unzulänglichkeiten des Geldsystems oder bloß eine unerfüllbare Utopie?

In der Startrek Folge "Die Neutrale Zone" findet die Besatzung der Enterprise einen eingefrorenen Finanzinvestor aus dem beginnenden 21.Jahrhundert. Nachdem er wiederbelebt wurde, besteht dessen größte Sorge darin, dass er seiner Anwaltskanzlei melden muss, dass er immer noch lebt - als Besitzer seines Portfolios. Denn nach seiner Vermutung müsste sich sein veranlagtes Vermögen innerhalb dreier Jahrhunderte wohl gigantisch vervielfacht haben.
    Kundige wissen allerdings, dass die Menschheit im Startrek-Universum ohne Geld lebt. Es herrscht kein materieller Mangel, und jeder arbeitet Zwecks innerer Erfüllung für das Allgemeinwohl.
    Ist die geldlose Gesellschaft letztlich die Befreiung von allen Unzulänglichkeiten des Geldsystems oder bloß eine unerfüllbare Utopie?
    Zunächst einmal ist die geldlose Gesellschaft gar keine Utopie. Sie hat seit dem Erscheinen des Homo Sapiens vor ca. 160.000 Jahren die meiste Zeit nachhaltig funktioniert.

    Was ist Geld nun tatsächlich?
    Es ist zB. ein universelles Mittel für den Austausch von Waren und Dienstleistungen. Geld ist aber vor allem auch das wesentliche Antriebsmittel aller wirtschaftlichen Tätigkeit: Jeder Lohnarbeiter muss es "verdienen" um zu überleben. Er vermietet im Austausch gegen Geld seine Lebenszeit, seinen Körper, seine intellektuellen Fähigkeiten und seine Loyalität.
    Andererseits können die Kontrolleure des Geldes bestimmen, welche Waren produziert werden, welche Dienstleistungen erbracht werden, und wer einen Arbeitsplatz und somit Einkommen hat.
    Geld ist zum Wertemaßstab für nahezu alles geworden: Zeit, Arbeit, Waren, Unternehmen, Land, sogar Tiere und Pflanzen, und teilweise auch Menschen. Materieller Reichtum ist neben der sexuellen Attraktivität schlichtweg DAS Kriterium nach dem Menschen innerhalb der sozialen Hierarchie eingestuft werden.
    Somit ist es heutzutage kaum noch vorstellbar, dass Menschen ohne Geldanreiz zu hohen Leistungen oder überhaupt zu einer nützlichen Tätigkeit zu motivieren wären.

    Motivation ohne Geld
    Was aber ist es dann, was sämtliche geldfreien Geschöpfe der Natur zu Höchstleistungen antreibt, und es ihnen somit ermöglicht, durch sozialen Zusammenhalt in einer rauen Umgebung zu überleben?
    1. Der eigene Überlebenswille, Nahrung und Unterkunft für sich selbst zu suchen
    2. Die emotionelle Bindung zu den anderen Mitgliedern der sozialen Gemeinschaft. Altruismus ist durchaus eine natürliche Veranlagung, die sogar bis zur Aufopferung führen kann. (Pjotr Kropotkin "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt")
    3. Die Natur hat ihre Geschöpfe mit Trieben und Gefühlen ausgestattet, welche (überlebens)notwendige Verhaltensweisen mit Lustgewinn verbinden
    So empfindet z.B. eine Katze das Mäuse-Fangen nicht als lästige Arbeit oder Pflicht, sondern sie empfindet Lust und Freude daran. Ebenso bereitet freiwilliger Sex Lust, obgleich er mit körperlicher Anstrengung und Proteinverlust verbunden ist.
    Wie würden also die Mitglieder einer geldlosen Gesellschaft freiwillig einen ausreichenden Beitrag leisten und gleichzeitig nicht zu viele Konsumgüter für sich selbst beanspruchen?
    Wenn sämtliche Konsumgüter für jeden beliebig und ohne Gegenleistung verfügbar wären, würde deren überdurchschnittlicher Besitz auch nicht zum sozialen Prestige beitragen.
    Würde jemand einen Palast für sich alleine nutzen wollen, würde er dafür nicht bewundert, sondern eher als "gierig" missachtet werden. Finanziell bedürftiges Reinigungspersonal wäre in der geldlosen Gesellschaft für solche Luxusbehausungen nicht zu finden. Somit würde tendenziell jeder nur soviel für sich selbst beanspruchen, als er auch selbst erhalten und bewirtschaften kann.

    Motivation zur Arbeit
    Die Motivation zur Arbeitsleistung wäre, sich an Projekten zu beteiligen, welche im Einklang mit dem eigenen Weltbild etwas Positives für die Gesellschaft und Umwelt bewirken. Der Lohn hierfür bestünde nicht in Geld, sondern in der Zuneigung und Anerkennung der anderen Mitglieder innerhalb der sozialen Gemeinschaft.
    Das läuft in der Natur ebenso: Ein besonders erfolgreicher Jäger wird in der Gruppe hohes Ansehen genießen und vielleicht auch überdurchschnittlich viele paarungswillige Weibchen vorfinden, aber er wird stets die Beute mit dem gesamten Rudel teilen.
    In einer freien geldlosen Gesellschaft wäre auch der Steuerungseffekt für wirtschaftliche Tätigkeit ganz anders. Nehmen wir als Beispiel zwei optionale Wirtschaftprojekte:
    Das eine Projekt wäre ein Spital in Afrika zu bauen; das andere Waffen für einen afrikanischen Diktator zu produzieren.
    Ein profitorientierter Investor würde natürlich die Waffenproduktion finanzieren und nicht das Spital, dessen potenzielle Patienten, anders als der Diktator, kaum über nennenswerte Kaufkraft verfügen. Auch fänden sich problemlos Firmen und Arbeiter, welche die Waffen für Geld produzieren.
    In einer geldlosen Gesellschaft hingegen müssten freiwillige Mitarbeiter und Lieferanten vom allgemeinen Nutzen des Projekts begeistert werden; und hier würde vermutlich die Entscheidung zu Gunsten des Spitals ausgehen.

    Wer macht freiwillig all die unangenehmen Arbeiten?
    In unserem heutigen System finden sich genügend Menschen, die aufgrund ihrer finanziellen Situation genötigt sind mühsame, monotone, oder auch unangenehme Arbeiten gegen geringe Entlohnung zu verrichten, und zusätzlich das damit verbundene niedrige soziale Prestige zu erdulden.
    Eine geldlose Gesellschaft stünde daher vor folgenden Herausforderungen:
    1. unangenehme Arbeiten durch technischen und organisatorischen Fortschritt weg zu rationalisieren
    2. Anreize zu schaffen, solche Tätigkeiten doch attraktiver zu machen, oder in irgendeiner Weise besonders zu belohnen. Oder auch die Mitglieder der Gesellschaft zeitweise zur Verrichtung dieser Tätigkeiten zu verpflichten, ähnlich wie derzeit junge Männer verpflichtet werden, 8 Monate Militärdienst oder Zivildienst abzuleisten
    Mit dem Wegfall des Geldes würden auch eine Menge Arbeiten wegfallen
    Sämtliche Jobs in der Finanzbranche und Buchhaltung wären überflüssig. Ebenso wäre Werbung großteils unnötig. Juristen und Exekutive wären sehr stark entlastet, da die meisten Verbrechen und Rechtsstreitigkeiten mit Geld bzw. Eigentumsdelikten in Zusammenhang stehen. Der Aufwand für Handel könnte erheblich reduziert werden, da in der geldlosen Gesellschaft Geschäfte bloß noch Warenverteilungszentren wären.
    Eine Industrie, welche nicht das vorrangige Ziel hat, Umsatz, Marktanteile und Gewinne zu erzielen, könnte es sich leisten, weniger aber dafür langlebigere Produkte zu produzieren.
    Wenn wir diese Faktoren allesamt mit einbeziehen, so könnte zumindest 50% allen heutigen Arbeitsaufwandes eingespart werden, ohne dass dies eine Minderung des materiellen Lebensstandards zur Folge hätte.

    Verteilung knapper Güter ohne Geld
    Dies betrifft vor allem: Land, Energie Ressourcen, Rohstoffe, Pflanzen und Tiere
    Dies ist ein Problem, dem sich die geldgetriebene Gesellschaft ebenso stellen muss. Ist es besser und gerechter, dass die Kaufkraft entscheidet, wer wie viel bekommt, anstatt nach Verfügbarkeit und Bedarf zu verteilen?
    Ist Geld überhaupt ein geeignetes Steuerungsinstrument, um zu sparsamen und sorgsamen Umgang mit knappen Ressourcen zu motivieren? Unser stets steigender Ressourcenverbrauch trotz deren erwiesener Knappheit widerspricht dem.

    Eigentum
    Das Eigentumsrecht ist, ebenso wie das Geld, eine Erfindung der neueren menschlichen Zivilisation. Es ist klar, dass jemand a priori das Eigentumsrecht an persönlichen Gegenständen hat, die der/die Betreffende selbst hergestellt hat. Aber welchen Beitrag hat irgendein Mensch an der Schaffung der Schätze der Natur gehabt?
    Praktisch jeder Quadratmeter der Erdoberfläche mit all seinen darauf befindlichen Pflanzen und Tieren, jeder entdeckte Rohstoff , befindet sich im Eigentum irgendeines Menschen oder einer Rechtsperson. Aber mit welcher Berechtigung?
    Wäre es daher nicht sinnvoller, die Schätze der Natur als Allgemeingut verantwortungsbewusst und nachhaltig zu nutzen, anstatt diese als Eigentum zu sehen? Wenn nur einige WENIGE die Eigentumsanrechte an Ressourcen haben, welche ALLE benötigen, so verschaffen die Verpachtung und der Verkauf dieser Ressourcen den Eigentümern Profit. Die anderen sind hingegen gezwungen, für die Eigentümer zu arbeiten, und sind von deren Wohlwollen abhängig.
    Das Eigentum an Ressourcen funktioniert daher ähnlich wie das verzinste Geldvermögen. Sowohl die Ressourcen als auch das Geld werden für den Rest der Menschen knapp gehalten. Eine geldlose Gesellschaft müsste daher auch eine (zwar nicht besitzlose, aber) teilweise eigentumslose Gesellschaft sein.

    Fazit
    Wenn ich die Vision der Geldlosen Gesellschaft der derzeitigen Geldgetrieben Gesellschaft gegenüber stelle, so würde Erstere das Gute und Edle im Menschen ansprechen; anders als das Geld, welches Gier, Neid, Geiz, Egoismus und Misstrauen unter den Menschen erweckt.
    Aber es gäbe auch einige große ungelöste Fragen bei der Umsetzung:
    • Wie soll der Übergang bzw. Systemwechsel ablaufen?
    • Muss das geldlose System global eingeführt werden, oder kann es innerhalb kleinerer Regionen autark existieren?
    • Wie viele Menschen soll und kann eine Solidargemeinschaft umfassen?
    • Können wir zB auch mit den Chinesen auf freiwilliger und unentgeltlicher Basis unsere Güter und Dienstleistungen teilen? Oder wird dann Außenhandel betrieben mit einem geldähnlichen Tauschmittel?
    • Inwieweit können Menschen, die bereits in der geldgetriebenen Gesellschaft sozialisiert wurden, umlernen, eigenverantwortlich und freiwillig für das Allgemeinwohl tätig zu sein?
    • Welche System-bewahrenden Widerstände von Personen und Institutionen wären zu erwarten?
    Man kann diese Probleme aber auch als Herausforderung sehen: Alle bisherigen bahnbrechenden Erfindungen und Errungenschaften beruhen darauf, dass bis dato unlösbar scheinende Probleme durch neue Erkenntnisse und Denkansätze gelöst wurden.

    Autor
    Thomas Herzig, geboren 1965, arbeitet als Architekt/ Erfinder/ Unternehmer, er ist spezialisiert auf aufblasbare Gebäude, Möbel und Skulpturen.
    Web: http://www.pneumocell.com

    Hier gehts zum Teil 2 "Beitragen statt tauschen": http://meandthesociety.blogspot.com/2011/11/geldlose-gesellschaft-2-beitragen-statt.html

    Freitag, 19. August 2011

    Abfall vs Hunger

    Mehr als die Hälfte unserer Lebensmittel landet im Müll.

    Frisch auf den Müll / Taste The Waste

    Die globale Lebensmittelverschwendung

    Ein Film von Valentin Thurn

    Hunger (Extra): Frisch Auf Den Müll ARD (43 Min.) from Nebel CC on Vimeo.


    Hunger ARD (88 Min.) from Nebel CC on Vimeo.


    und im noch im Kino am 8.September 2011: http://www.tastethewaste.de/

    Dienstag, 16. August 2011

    Ich & DU: Komplette KenFM-Sendung über Uranmunition vom 17.4.2011



    +++ Auch als MP3-Download auf http://www.kenfm.de/ +++

    KenFM am 17. April 2011 mit dem Thema "Ich und DU", wobei DU für Depleated Uranium steht. Bunkerbrechende Munition, die aus abgereichertem Uran hergestellt wird. Dieser Stoff entsteht beim Betrieb von Atomkraftwerken und gilt als klassischer Atommüll. Militärdesigner nutzen DU seit geraumer Zeit um damit effektive Bomben zu bauen. KenFM beschäftigte sich am Sonntag, den 17. April mit DU-Munition und den Folgen z.B. für Soldaten, die jetzt in Afghanistan stationiert sind. Ken Jebsen traf sich deshalb u.a. mit Frieder Wagner, einem ARD-Journalisten, der 2004 einen Film über den tödlichen Staub gemacht hat: Deadly Dust.

    Die Sendung steht auch als MP3-Podcast auf http://www.kenfm.de/ zur Verfügung!

    KenFM über London calling!

    Wieder mal unser reisserischer Ken:

    Montag, 15. August 2011

    «Der Kapitalismus zerstört sich selbst»

    Tages-Anzeiger vom 15.8.2011: http://www.tagesanzeiger.ch/wirtschaft/konjunktur/Der-Kapitalismus-zerstoert-sich-selbst/story/17292866
    Von Philipp Löpfe.

    Die Ungleichgewichte zwischen Superreichen und Mittelstand in den westlichen Industriestaaten werden zu einer Gefahr für Marktwirtschaft und Demokratie. Es gibt nur ein Rezept.

    «US-Konzerne horten Geld», schreibt die «NZZ» heute im Wirtschaftsteil und fügt dann eine eindrückliche Liste an, welche Firmen auf wie grossen Geldbergen sitzen. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: US-Unternehmen horten derzeit rund 2000 Milliarden Dollar. Das ist doppelt so viel wie der Börsenwert aller im S&P-500-Index enthaltenen Firmen, oder rund 500 Milliarden Dollar mehr als das US-Bruttoinlandprodukt im Jahr 2010. «Amerikanische Firmen haben so viel Geld in ihren Kassen wie noch nie zuvor», stellt die «NZZ» lakonisch fest.

    In der «New York Times» von heute Montag stellt der legendäre Investor Warren Buffett heute ebenfalls eine Rechnung an: «Die Superreichen zahlen 15 Prozent Steuern auf dem grössten Teil ihres Einkommens und sie zahlen praktisch keine Lohn-Nebenkosten», schreibt er. «Ganz anders sieht die Lage für die Mittelschicht aus: Sie zahlt typischerweise zwischen 15 und 25 Prozent Steuer auf ihrem Einkommen und dazu gesellt sich zusätzlich eine kräftige Portion Lohn-Nebenkosten.» Die Superreichen sind in den letzten 20 Jahren gemäss Buffett extrem gut gefahren. Seit 1992 hat sich ihre Steuerbelastung von durchschnittlich 29,2 Prozent auf 21,5 Prozent verringert, obwohl sich das steuerbare, jährliche Einkommen der 400 Reichsten auf unglaubliche 227,4 Millionen Dollar erhöht hat.

    Dramatischer Einbruch

    In einem Video-Interview mit dem «Wall Street Journal» analysiert der Star-Ökonom Nouriel Roubini den Zustand der westlichen Industriestaaten. Wegen einer massiven Umverteilung des Wohlstandes zugunsten der Superreichen sei die Nachfrage in den westlichen Industriestaaten zusammengebrochen. Der Einbruch sei so dramatisch, dass wir Glück gehabt hätten, nicht bereits jetzt in eine Depression abgerutscht zu sein, sagt Roubini und prophezeit im besten Fall lange Jahre einer schmerzhaften Stagnation.

    In den letzten Wochen haben sich die Erwartungen an die Zukunft der Ökonomen dramatisch verändert. Die neue Einschätzung lautet: Die USA stehen unmittelbar vor einem Rückfall in die Rezession, einem Double Dip, in Europa wird das Wirtschaftswachstum ebenfalls zum Stillstand kommen. Nicht nur die üblichen Problemländer verharren in ihrem Schlamassel. Auch in Frankreich herrscht de facto Null-Wachstum, der deutsche Wirtschaftsboom ist bereits vorbei. Allein im Juni ist die industrielle Produktion der Eurozone gegenüber dem Vormonat durchschnittlich um 0,7 Prozent eingebrochen. «Wir haben eine neue Gefahrenzone betreten», warnt auch der Präsident der Weltbank, Robert Zoellick.

    Unmögliches Rezept

    Vereinfacht gesagt sieht die Lage der westlichen Industriestaaten derzeit wie folgt aus: Konzerne und Superreiche haben in den letzten Jahrzehnten ungeheure Vermögen angehäuft und profitieren heute von tieferen Löhnen, billigem Geld und sinkenden Steuern. Der Mittelstand hingegen blutet aus: Die Löhne sinken, die Wohnkosten und die Steuerbelastung steigen. Das Resultat ist eine einbrechende Nachfrage, die im Begriff ist, in eine Verelendungsspirale zu münden. Dieses Phänomen ist Ökonomen bestens bekannt, sei es als «Liquiditätsfalle» oder als «Balance Sheet Recession».

    Vermeintliche Freunde des Kapitalismus, Liberale und Konservative, wollen mit Sparen und Steuersenken der Liquiditätsfalle entrinnen. Das kann unmöglich zum Erfolg führen. Wie soll bei fallenden Löhnen und steigender Arbeitslosigkeit Nachfrage entstehen? Und weshalb sollten Unternehmen investieren, wenn keine Nachfrage besteht?

    Massive Umverteilung

    Der Weg aus der Liquiditätsfalle sieht anders aus: Kurzfristig muss mit sinnvollen Investitionsprogrammen in Infrastruktur und Bildung Nachfrage geschaffen werden, um Massenarbeitslosigkeit und Deflation zu verhindern. Gleichzeitig muss der Lohnzerfall der Mittelschicht gestoppt werden. Um zu verhindern, dass die Staatsschulden ausser Kontrolle geraten, muss die massive Umverteilung zugunsten der neuen Oligarchie wieder rückgängig gemacht werden. Das geht nur – wie es auch Buffett fordert – mit einer Erhöhung der Steuern für Superreiche.

    All dies ist keine Frage der Ideologie mehr und es geht auch nicht um Fairness oder Moral. Wer das System retten will, muss jetzt handeln. «Die Märkte funktionieren nicht mehr», sagt Roubini. «Der Kapitalismus ist im Begriff, sich selbst zu zerstören.» (Tagesanzeiger.ch/Newsnetz)


    Donnerstag, 11. August 2011

    Der rechte Abschied von der Politik

    Aus dem Tages Anzeiger: http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/amerika/Der-rechte-Abschied-von-der-Politik/story/22710602

    Von Constantin Seibt. Aktualisiert am 08.08.2011

    Charles Moore ist Konservativer bis in die Knochen. Er war 20 Jahre lang Chefredakteur strenger und konservativer Zeitungen, zuletzt des «Telegraph». Er konvertierte zum Katholizismus, ist ein beliebter Gast des Papstes und der offizielle Biograf von Margaret Thatcher. Vorletzte Woche schrieb Moore eine Kolumne, die sein ganzes Leben in Frage stellt. Ihr Titel lautet: «Ich fange an zu denken, dass die Linke vielleicht doch Recht hat».

    Moore schreibt: «Ich habe mehr als 30 Jahre gebraucht, um mir diese Frage zu stellen. Aber heute muss ich es tun: Hat die Linke doch Recht?» Und fährt fort: «Die Reichen werden reicher, aber die Löhne sinken. Die Freiheit, die dadurch entsteht, ist allein ihre Freiheit. Fast alle arbeiten heute härter, leben unsicherer, damit wenige im Reichtum schwimmen. Die Demokratie, die den Leuten dienen sollte, füllt die Taschen von Bankern, Zeitungsbaronen und anderen Milliardären.»

    Dann blendet Moore zurück zu seinen Anfängen als Journalist. Damals, in den 80er-Jahren, entfesselte Thatcher die Finanzmärkte und zerschlug die Gewerkschaften. Moore unterstützte beides. Nun schreibt er: «Die Kreditkrise hat gezeigt, wie diese Freiheit gekidnappt wird. Die Banken sind ein Spielfeld für Abenteurer, die reich werden, auch wenn sie Milliarden verfeuern. Die Rolle aller anderen ist, ihre Rechnung zu zahlen.»

    Und zum damaligen Verbündeten von Thatcher, dem Verleger Rupert Murdoch, schreibt er: «Murdoch argumentierte immer mit dem Recht der Leser. Aber seine Zeitungen informieren erbärmlich. Sie verschafften ihm persönlich Macht, nicht seinen Lesern.»

    Moore beschreibt die «schrille» Kompromisslosigkeit der Republikaner in den USA. Und bemerkt: «Die westliche Demokratie fängt an, wie ein aussterbender Luxus auszusehen. Klar können wir Fähnchen mit dem Aufdruck ‹Freiheit› schwingen. Aber auf ihnen steht, kleingedruckt, ‹Made in China›.»

    Und er endet: «Das alles ist eine schreckliche Enttäuschung für uns, die wir an freie Märkte glaubten, weil sie freie Menschen hervorbringen würden...»

    Reinheit statt Politik

    Gleichzeitig verzweifelte auf der anderen Seite des Atlantiks ein anderer konservativer Kolumnist. David Brooks, überzeugter Republikaner, schrieb in der «New York Times», über seine eigene Partei: «Die Mitglieder dieser Bewegung akzeptieren die Logik des Kompromisses nicht, egal wie gut die Offerten sind. Sie akzeptieren nicht die Legitimität von Wissenschaftlern. Tausend Experten können ihnen sagen, dass ein Staatsbankrott furchtbare Effekte nach sich zieht, die schlimmer als eine kleine Steuererhöhung sind. Aber sie hören sie nicht.»

    Was Brooks entsetzte, war, dass die Republikaner einen gigantischen Sieg aus der Hand gaben. Sie lehnten einen fast selbstmörderischen Vorschlag Präsident Obamas ab, das Defizit durch brutale Einsparungen zu reduzieren. Und zwar, weil dabei auch Steuerlöcher gestopft werden sollten. Es war ein Vorschlag, der ihnen alles schenkte: einen Sieg ihrer Sparpolitik plus eine Spaltung der gegnerischen Partei. Stattdessen riskierten sie den Bankrott des eigenen Landes.

    Warum? Weil, so Brooks, Politik nicht mehr ihr Ziel ist. «Ihr Geschäft sind Radio-Shows, nicht Gesetze», schrieb er. Und um das Publikum nicht zu irritieren, bewegten sich die Republikaner nur «im konservativen Ghetto», einem «ewigen Wahlkampf, in dem es nicht um die Sache geht, sondern um möglichst scharfe Kontraste zum Gegner, dem man in Abstimmungen grösstmögliche Probleme macht».

    Die Republikaner stellten «Reinheit über Resultate»: «Sie haben sich von der Politik als der Kunst des Möglichen verabschiedet.»

    Zen-Buddhisten an der Macht

    Sicher, Moore und Brooks sind zwei einsame Männer. Gläubige, die denken, bleiben immer einsam. Doch Ihr Entsetzen über das, was aus der konservativen Rechten geworden ist, ist nicht ihr Privatproblem. Es ist das Problem der ganzen Welt.

    Zum ersten ist die jetzige seit Jahren wie ein Schwelbrand eskalierende Krise – die schlimmste seit der grossen Depression – das Ergebnis rechter Politik: Das Resultat von blinder Deregulierung von Wirtschaft und Finanzmärkten. Zum zweiten sind die Rezepte, die gegen die Krise angewandt werden, wieder rechte Rezepte: eine blinde Sparpolitik. Und drittens ist die Rechte daran, die westliche Gesellschaft fundamental zu verändern. Die 60 Jahre Herrschaft der westlichen Mittelklasse geht ihrem Ende zu. Installiert wird eine Oligarchie.

    Der Grund für den enormen Erfolg der der Rechten und der Grund ihrer Radikalisierung ist in einem einzigen Wort zu finden: Einfachheit. Sie haben ein Rezept für jedes Problem – und fast immer nur eines. Damit sind sie perfekt gewappnet für eine stetig komplexere Welt.
    Ihr Aufstieg begann mit den Anfängen der Globalisierung in den 80er-Jahren. Das Rezept auf komplexere Märkte, komplexere Krisen, überforderte Verwaltung war: Entschlossen dafür zu kämpfen, möglichst nichts zu tun. Denn der Markt regelt das besser und alleine.

    Dass Märkte sehr verschieden sind, dass sich in regellosen Märkten immer die Stärksten durchsetzen – die Monopolisten oder die Reichsten – spielte keine Rolle. Denn mit dem Mehr-Markt-Argument hatte man als Politiker fast jedes Problem im Griff. Ohne sich (wie die Dummköpfe, die Verantwortung wollten) in Widersprüche, Pannen und Ärger zu verwickeln.

    Ausserdem ergab sich ein angenehmer Nebeneffekt. Es klopften einem die Erfolgreichsten und Mächtigsten auf die Schulter. Manchmal mit einem Geldschein.

    Das Verheerende dabei war nicht einmal das. Geld und Politik sassen schon immer nahe beisammen. Sondern dass Politiker und Wirtschaftsleute anfingen, wirklich daran zu glauben, dass die Dinge sich durch das Patentrezept «weniger Kontrolle!» besser regeln liessen. Ausgerechnet die harten Kerle an der Macht, die sich deshalb als noch härtere Realisten sahen, wurden zu Träumern: zu Idealisten des Nichthandelns, zu Zen-Buddhisten im Chefbüro.

    Das Vakuum

    Die Träumerei verhinderte natürlich keineswegs realistische Taten: die Arbeitsgesetze, die Unternehmens- und Spitzensteuersätze, die Arbeitslosenzuschüsse wurden überall geschleift. (In den USA zahlt General Electric etwa bei einem Gewinn von 12 Milliarden Dollar nicht nur keine Steuern, sondern bekommt auch noch eine Steuergutschrift.)

    Aber solche Manöver brauchten keine besonderen geistigen Anstrengungen. Das Problem war: Politiker und Bosse verlernten, ihr Metier zu durchschauen. Die cleversten Bankenchefs vertrauten blind auf die Risikomodelle ihrer Experten: Am Ende investierten sie fast alle gleich, im amerikanischen Häusermarkt. Sie hielten sich für gefährliche Wölfe. Und waren noch gefährlichere Schafe.

    Es ist kein Zufall, dass die Finanzmärkte in den letzten 15 Jahren die Treiber der Politik sind. Vor der Krise wurden sie mit Gefälligkeiten aller Art umworben; nach der Krise mit tausenden Milliarden gerettet; heute sind sie auf der Jagd nach den verschuldeten Rettern. So dass die reichsten Staaten der Welt vor dem Bankrott stehen.

    Denn der Finanzmarkt ist der reinste Ausdruck des zeitgenössischen Denkens: der Herde. Die Märkte sind ewig nervös, da sie nur zwei Zustände kennen – Angst und Gier – und nur zwei Dinge respektieren: Erfolg und Misserfolg. Das liefert sie nackt Euphorie und Angst – und damit dem allgemeinen Gerede aus: Die Börse bewegt nicht primär, was ist, sondern was alle darüber sagen.
    Wohin zum Teufel sind die Intellektuellen verschwunden? Überall findet man sich orientierende, kaum irgendwo Orientierung gebende Köpfe. Das macht sie anfällig für Moden aller Art. Die Führungspersönlichkeit des 21. Jahrhunderts ist: das Modeopfer.

    Die Macht des Geredes

    Einmal, 2008 nach der Krise, sah das kurz anders aus: Die Banken krachten zusammen. Die verachteten Politiker retteten sie. Nun schien sich der Spiess umzukehren. («Wir dürfen das Geschenk einer solchen riesigen Krise nicht verschwenden», sagte etwa Obamas Stabschef Rahm Emanuel.)

    Die Bankenrettung war das teuerste Unternehmen der Menschheitsgeschichte – sie kostete bis heute 15 Billionen Dollar, das Zehnfache des Zweiten Weltkriegs. Doch als sich der Staub legte, sah man, was die Banken dafür hinnehmen mussten: viel Moralpredigten, kaum Regulierungen.

    Und noch schlimmer. Kaum waren die ersten Feuer gelöscht, fing das Gerede an. Journalisten, Analysten, dann Politiker sprachen immer lauter von der Vernunft: vom Sparen. Nach den enormen Ausgaben müsse man den Gürtel enger schnallen. Und zwar massiv.

    Was sie dabei vergassen, war: Für ein Unternehmen wäre eine solche Strategie vernünftig. Für einen Staat war es Selbstmord. Denn wer zum Teufel sollte in der Krise investieren, wenn nicht er? Die Banken waren pleite, die Konsumenten auch und die Konzerne weigerten sich zu investieren.

    Nach ersten, zaghaften Konjunkturprogrammen schnitten die USA und Grossbritannien die Ausgaben bald zurück – für die bankrotten Banken gab es Geld, für Arbeitslose, Kranke, bankrotte Hausbesitzer nicht mehr. Obwohl diese das Geld sofort wieder ausgegeben hätten. Budgets wurden gestrichen; in England entliess die neue Regierung des Konservativen David Cameron demonstrativ hunderttausende Beamte. Die Folgen waren schrecklich. In beiden Ländern stieg die Arbeitslosigkeit auf 11 Prozent. Wirkliche Armut, wirkliche Angst, wirklicher Zorn. In den USA leben heute 42 Millionen Leute von Essensmarken. In Grossbritannien rutschte gleich die gesamte Wirtschaft in die Rezession.

    Doch die Jobkrise wurde nie als Priorität behandelt – alle Politiker sprachen, was alle sprachen: von der Defizitkrise. Dabei ist eine Schrumpfkur in der Rezession etwa so wirksam, wie der Ökonom Paul Krugman schrieb, «wie ein mittelalterlicher Arzt, der einen Kranken kräftig zur Ader lässt».

    Als die USA diese Woche ein Rekord-Sparpaket schnürten, sah man, dass das Defizit selbst in Augen der Urheber des Geflüsters, der Börse, nicht das wahre Problem war: Seither brechen weltweit die Kurse zusammen.

    Kurz: Die Politiker in den USA und in England fuhren eine Politik, die ihrer Bevölkerung viele Schmerzen bereitet. Eine unpopuläre Politik. Und unnötige Schmerzen. Und dann versenken sie dabei auch die eigene Wirtschaft. – Warum? So mächtig ist das Gerede.

    Die radikale Rechte

    Es sind die Rezepte der Rechten, die in diese Krise geführt haben. Schon allein, weil sie darin so erfolgreich waren, dass sie zu allgemeinen Wahrheiten wurden. Doch was passiert nun mit der Rechten?

    Sie radikalisiert sich. Sie besäuft sich an ihrer eigenen Einfachheit. Ronald Reagan, das Idol der neuen Rechten, war ein Cowboy als Redner, aber als Politiker im Ernstfall Pragmatiker. Die Sowjetunion war «das Reich des Bösen», klar, aber er nahm Abrüstungsverhandlungen auf. «Die Regierung ist nicht die Lösung, sondern das Problem», sicher, aber Reagan erhöhte elf Mal die Steuern.

    Heute würde Reagan aus der republikanischen Partei gemobbt. Heute müssen Abgeordnete, um gewählt zu werden, einen Eid unterschreiben, nie, auf keinen Fall Steuern zu erhöhen. Und ihre Antworten auf komplexe Fragen sind unverhandelbar kurz: Budgetkürzungen? Wenn nicht bei der Armee – immer gut. Steuergeschenke? Immer gut. Defizit? Des Teufels. Sozialprogramme? Des Teufels. Renten, medizinische Versorgung? Des Teufels. Den eigenen Verhandlungsführer niedermachen? Kein Problem. Den Staat bankrott gehen lassen? «Dann geht trotzdem morgen die Sonne auf.»

    Es sind Positionen, mit denen keine Politik mehr zu machen ist, nur Revolution. In einer Karikatur sagte Obama: «Wir geben euch alles, was ihr wollt.» Worauf die Republikaner sagen: «Das ist inakzeptabel.»

    Die Milliardärspartei

    Das Verblüffende ist: Warum sind die Rechten in Europa und den USA so erfolgreich? Warum mit einem Programm, das weder funktioniert, noch für den Mittelstand – bei Licht besehen – lukrativ ist?

    Der Vorteil der Rechten ist zum ersten ihre Energie: Schnelligkeit ist die Waffe derer, die lange nachgedacht haben. Aber auch die Waffe derer, die nie nachgedacht haben.

    Dann, mit Sicherheit, fasziniert der Ton der Härte: Er passt zur Zeit, die als hart angesehen wird.

    Und schliesslich funktioniert der Paket-Trick, wie ihn Paul Krugman beschrieb: «Die Rechte redet von Schulgebeten, von Waffenbesitz, Schwulenehe, Wohlfahrtsempfängern, die Mercedes fahren, sie redet von Stolz, dem einfachen Mann, der verbrecherischen Elite und amerikanischen Werten – und wenn sie an der Macht ist, beschliesst sie Steuererleichterungen für Reiche.»

    Tatsächlich senkte George W. Bush an der Macht die Steuern für Reiche und Unternehmen derart, dass ein solider Budgetüberschuss in ein tiefes Minus kippte: Man rechnet mit 2 Billionen Dollar Ausfällen in den letzten 10 Jahren.

    Weltkonzerne zahlen oft gar keine Steuern; und von den Superreichen nur die Hälfte den Spitzensteuersatz. Und der ist tiefer als je zuvor. Dabei hat niemand in den drei Jahrzehnten der rechten Politik so profitiert wie die Superreichen: Vor 25 Jahren besass das reichste Prozent der Amerikaner 33 Prozent des Landes. Heute sind es 40. Noch krasser ist die Situation beim Einkommen: Es verdoppelte sich von 12 auf 25 Prozent des Kuchens.

    Die durchschnittliche Mittelstandsfamilie hingegen sackte leicht unter das Niveau von 1980. Für sie waren es drei verlorene Jahrzehnte.

    Die Politiker der Rechten reden von Freiheit und dem kleinen Mann, aber sie betreiben das, was Joseph Stiglitz trocken «Sozialismus für Reiche» nannte. Das Resultat ihrer Politik ist unter dem Strich die Oligarchie. Kein Zufall, werden die Parteien, etwa der Tea-Party-Flügel in den USA oder auch die SVP in der Schweiz von Milliardären geführt.

    Was tun?

    «Ich vertraue auf die Vernunft. Wir alle sind verantwortungsvolle Leute», sagte Obama. Er sagte es vor der Bankenregulierung. Und vor den jetzigen Defizitverhandlungen. Er irrte sich.

    Denn es ist ein Fehler der Linken und Liberalen, diese Parteien aus langer Gewohnheit heraus für Politiker zu halten. Es sind nicht mehr die guten alten Konservativen, die sie gegründet haben. Ihr Metier sind nicht Kompromisse, sondern Wahlkämpfe.

    Obama, ein ernsthaft praktizierender Christ, glaubte das Gegenteil. Und scheitert deshalb politisch. Die Rechten nahmen der Reihe nach die Arbeitslosenunterstützung, das Konjunkturprogramm und schliesslich den ganzen Staat als Geisel. Obama gab jedes Mal nach, kürzte Programme für die Armen und verschonte die Steuerprivilegien der Reichen. Zum Dank beschimpften die Republikaner den Präsidenten als Sozialisten, islamischen Agenten und weiss-der-Teufel-was. Auch die gemässigten Liberaldemokraten in England, die mit den Tories koalierten, gingen unter. Sie wurden von der der konservativen Sparagenda überrollt. Auch Obama wurde von seinem Gott verlassen, als er seinen Gegnern die Hand reichte.

    Was also tun? Zunächst ist nur klar: Man kann von dieser Sorte Rechten weder als Linker, noch als Liberaler Kompromisse erwarten. Auch kein Nachlassen. Die neue Rechte wird aus der Krise gestärkt hervorgehen: Sie werden gewählt und befeuert von der Angst und dem Hass der Verlierer, die ihre Politik schafft.

    Es bleibt kein Weg, die neurechte Wir-oder-Ihr-Position zu vermeiden. Es wird ein langer, harter, zäher, frucht- und freudloser Kampf.

    Das was sich tun lässt, ist den Kopf dabei nicht zu verlieren. Genau hinzusehen und das allgemeine Gerede nicht einfach zu kopieren. Wie nie zuvor regiert die Ökonomie die Welt und ihre Entscheidungen. Und trotzdem besteht sie fast nur aus Jargon. Wenn verhandelt wird, dann fast nur in Schlagworten, die als Universalrezepte verstanden werden. Meist fällt, irgendwie verlängert, der Jahrhundertsatz, den einst Margaret Thatcher erfand: «There is no alternative!»

    Das ist Lüge: Ökonomie ist keine Wissenschaft, sie ist eine Kunst. Wer hinsieht, weiss: Es gibt keine Situation ohne Alternativen. Und damit beginnt jede Politik. Es ist Zeit, die selbstverschuldete ökonomische Unmündigkeit hinter sich zu lassen.

    Und drittens dürfen Linke und Liberale nicht mehr eine Krise verschwenden – so wie die Bankenkrise. Kein Land hat es geschafft, seine Finanzindustrie in den Griff zu bekommen. Und aus ihr das langweilige, solide Geschäft zu machen, dass es über Jahrzehnte hinweg war.

    Und schliesslich sollte man die alten Konservativen ein wenig stärken. Schon, um zu zeigen, dass es einst eine kluge, respektable Rechte gab. Es war ein Republikaner, Oliver Wendell Holmes, der sagte: «Ich zahle gern meine Steuern. Mit ihnen kaufe ich mir Zivilisation.»

    Es lohnt sich, gegen die neue Rechte anzutreten: Sie sind keine konservative Partei, sondern eine revolutionäre. Sie sind eine Gefahr für die Wirtschaft. Sie sind Totengräber der Mittelklasse. Und Verbündete einer neuen Oligarchie des Geldes. Sie sind die Feinde der Zivilisation.


    nochmals einen Artikel darüber in der FAZ: http://www.faz.net/artikel/C30351/buergerliche-werte-ich-beginne-zu-glauben-dass-die-linke-recht-hat-30484461.html
    und im Telegraph: http://www.telegraph.co.uk​/news/politics/8655106/Im-​starting-to-think-that-the​-Left-might-actually-be-ri​ght.html



    "You wouldn't be talking to me now if we didn't riot, would you?"

    Aus Telepolis: http://www.heise.de/tp/artikel/35/35282/1.html

    Thomas Pany 10.08.2011

    Unruhen in Großbritannien: Erklärungslücken, Trittbrettfahrer und der ausgehöhlte Staat

    Mark Duggan hat nicht auf die Polizei geschossen, bevor er getötet wurde. Auch die Kugel, die den Polizisten traf, stammt laut ballistischen Tests der Untersuchungskommission IPCC aus einer Polizeiwaffe. Die Nachricht ist von gestern. Was am Anfang der Unruhen in Tottenham stand, kann längst nicht mehr erklären, was seither in Großbritannien passiert. "No, we are looking at something bigger.".

    Interessant ist die Erklärung zur fatalen Polizeikontrolle vom vergangenen Donnerstag dennoch. Wie Medien berichten, heißt es, dass "die Polizeibeamten niemals behauptet haben, dass sie zuerst auf Duggan geschossen haben. Der Beamte, der den (tödlichen, Einf. d.A.) Schuss auf Duggan abgab, hat allem Anschein nach aus Angst um sein Leben gehandelt."

    However, a loaded handgun was recovered from the scene. This is all consistent with the account of the officers on the scene, who never claimed to have fired on Duggan first. The officer who fired the shot is believed to have acted because he feared for his life.

    Der gleiche Wortlaut ist im Guardian zu finden. (Einfügung: Möglicherweise ist das ein Übertragungsfehler, weil andere Quellen nur davon sprechen, dass die Polizisten behaupten, Duncan habe nicht geschossen. Dann wäre die Darstellung tatsächlich konsistent. In der Formulierung des Guardian hinterlässt sie eine Erklärungslücke, weil dann niemand den ersten Schuss abgegeben hätte.)

    Die Unruhen haben sich ausgeweitet, Manchester, West Bromwich und Wolverhampton sind hinzugekommen. Der Vielzahl der Ausschreitungen im Raum London und in den Städten außerhalb, wie z.B. Birmingham, Liverpool oder Nottingham, um nur die bekanntesten zu nennen, ist nicht mehr zu folgen. Ein Blick auf das Blog The West Londoner, das versucht, Nachrichten über Eregnisse aus allen Riot-Zonen zu protokollieren, genügt, um zu sehen, dass es um "something bigger" geht.

    Die Befestigung der Fronten

    London blieb vergangene Nacht relativ ruhig. Das wird als Erfolg des Premiers dargestellt, der mit einem größeren Polizeiaufgebot reagierte und mit der Botschaft, das jetzt hart durchgegriffen wird. Gedroht wurde mit dem Einsatz von Plastikgeschossen. Unterstützt wird das Vorgehen von Medien, die großformatig Bilder platzieren von Helden, die Zivilcourage gegen Banden auf Zerstörungsmission zeigen, und dann niedergeschlagen wurden. So werden Fronten befestigt, die den Ausschreitungen zugrundeliegen. So werden auch die zu Trittbrettfahrern, die überall nur Trittbrettfahrer von Kriminellen sehen wollen.

    Berichte von Augenzeugen, die als Unbeteiligte in nächtlichen Aufruhr geraten sind, führen da ein anderes, differenziertes Bild der Gruppen und ihrer Aktionen vor Augen, ohne dabei Härte und Gewalt zu relativieren. Auch bei diesen Gewaltausschreitungen ist die Perspektive entscheidend. Von Ladenbesitzern wird man anderes zu hören bekommen. Und die Antwort eines Rioters auf eine Reporterfrage wird als "The sad truth behind London riot" bereits vielerorts zitiert:

    Is rioting the correct way to express your discontent?
    "Yes," said the young man. "You wouldn't be talking to me now if we didn't riot, would you?"


    Würde solches in einem Land des Nahen Ostens geäußert, würde dies anders ausgeleuchtet. Kriminalität, womit ja auch die Autokraten in arabischen Ländern Unruhen kategorisieren, reicht als Erklärung der Vorgänge nicht weit genug. Die Lage auf einzig diese Erklärung zu reduzieren, wie dies die britische Regierung tut, soll die Öffentlichkeit auf Kurs halten. Da klafft aber eine Lücke, die mit Ignoranz und Fahrlässigkeit seitens der britischen Regierung zu tun hat und das nicht erst seit die Torys an die Macht kamen.

    Trittbrettfahrer einer Politik der Härte

    Dass sie auf die Ausschreitungen mit der Eskalation der bisherigen Politik reagiert, mit noch mehr Polizei, wie dies gerade debattiert wird, und mit der emphatischen Ausgrenzungen ("krank! kriminell!") zeigt, dass die britische Regierung gewillt ist, ignorant zu bleiben. Man will sich im Augenblick als handlungsfähig darstellen, von Zweifeln verschont, aktiv und setzt programmatisch weiter auf hartes Durchgreifen und Sparprogramme, die die Klassengegensätze noch mehr verschärfen werden. Das ist nicht schwer in einem Land, "wo das Vermögen der oberen 10 Prozent der Bevölkerung mehr als hundertmal so groß wie das der unteren 10 Prozent" ist, wie in einem Bericht der FAZ zu lesen ist.

    Dass sich der Staat, der sich einzig an den Wirtschaftsinteressen der Gutgestellten und der Unternehmen orientiert, aus den problematischen Zonen zurückgezogen hat und damit die Grundlagen für solche Unruhen geschaffen hat, ist bislang kein Thema der öffentlichen Diskussion in Großbritannien. Wenn überhaupt, dann wird auch in der nächsten Zeit nur von mehr Polizeipräsenz in solchen Brennpunkten die Rede sein. Der Staat ist aber mehr als Polizeigewalt - die im übrigen auch eine der wesentlichen Ursachen für die Wut in England ist.

    Elend und staatliche Präsenz

    Wie das Beispiel Frankreich zeigt, ändert Polizeipräsenz und Überwachung grundsätzlich nichts daran, dass die Viertel potentielle "Pulverfässer" bleiben. Es ginge darum, in den Vierteln, wo "die Leute leben wie Ratten", anders präsent zu sein:

    "Vielleicht sollte er (Cameron, Einf. d. A.) mal einen Ausflug machen nach Lewisham oder nach Bellingham und schauen, wie die Leute dort leben müssen. Das ist ein Elend, wie man es sich eigentlich nicht vorstellen kann", sagte Jenny. Die Menschen hausten in ihren Blocks "in winzigen Rattenlöchern" - anders könne man das nicht sagen. Zoe Jenny

    Sozialleistungen sind in der öffentlichen "Schmarotzer"-Debatte, die auch in Großbritannien geführt wird, gründlich entwertet worden. Zugleich wird die Kritik an staatlichen subventionierte Geldströmen, die selbsternannte Leistungsträger erhalten, als naiv und der Realität der Wirtschaft nicht angemessen, herabgestuft. Zur Rettung von Banken, deren selbstverantwortetes Gebaren eine Krise nach der anderen produziert, werden Milliarden Steuergelder ausgegeben, sie sind systemrelevant. Das sind aber auch die Bewohner der Problemzonen.

    Sozialleistungen als Antwort untauglich?

    Man muss sich um sie kümmern, Geld investieren, Arbeitsplätze für Streetworker und andere Sozialarbeiter schaffen, Perspektiven entwickeln, aber nicht am Reißbrett - lauter Maßnahmen, die im öffentlichen Diskurs als überholt gelten. Sind sie es denn tatsächlich? Oder ist das nur Polemik? Wieso hat es in Deutschland keine Unruhen gegeben, als im Ruhrgebiet eine Menge Leute arbeitslos wurden und viele Jugendliche keine Perspektiven hatten?

    Die britischen Regierungen haben sich seit Thatcher auf einen Privatisierungskult-Kurs begeben, das Ergebnis ist laut Tony Judt eine "ausgehöhlte Gesellschaft", "deren schwächste Mitglieder - diejenigen, die Arbeitslosenunterstützung beantragen, ärztliche Hilfe benötigen oder andere staatlich garantierte Leistungen in Anspruch nehmen wollen - instinktiv wissen, dass sie sich nicht mehr an den Staat wenden können."